„Tacheles“ – Die Lehrerkolumne: „Faule Säcke“ bei der Digitalisierung

(Foto: photosforyou/pixabay)

Ob deutsche Schulen digital gut, schlecht oder gar nicht fortschreiten, darüber streiten sich Bildungsexpertinnen und -experten, Lehrer- und Elternvertreter, Bildungspolitikerinnen und -politiker. Die einen beschwören, wie gut es gerade mit dem digitalen Fernunterricht läuft, und geben glaubwürdige Beispiele. Die anderen lassen kein gutes Haar an deutschen Schulen – und liefern ebenso glaubwürdige Beispiele für völliges Versagen. Was überwiegt aber? Die guten oder die schlechten Beispiele?

Jeder Lehrer und jede Lehrerin können an sich selbst, an der eigenen und an ihnen bekannten Schulen beobachten, ob wir digitalen Unterricht praktizieren. Nachdem ich bereits über Schulen berichtet habe, wo dies gelingt (hier klicken), nehme ich mir nun die schlechten Beispiele vor, ohne Namen zu nennen.

Zu viele faule Säcke und zu viel Wurstelei?

Um es kurz zu machen: Leider ist viel dran an den Vorwürfen von Medien, Schüler- und Elternvertretern in Richtung von Kolleginnen, Kollegen, Schulleitungen und Schulministerien. Obwohl zum Beispiel völlig klar ist, dass es nichts mit Pädagogik und Distanzunterricht zu tun hat, wenn sie Arbeitsblätter und Aufgaben über Email oder WhatsApp verteilen, hört man noch viel zu oft davon. Auch die von den Ländern angepriesenen Moodle-Entwicklungen HPI, Logineo, Mebis & Co. halten nicht, was Schulministerien – aber auch die Staatsministerin für Digitales, Dorothee Bär – versprochen haben. In der Praxis scheitert der Unterricht an technischen Unzulänglichkeiten.

So tragen die „Faulen Säcke“, wie der "Focus" sie genüsslich betitelt, gemeinsam viel zu dem verheerenden öffentlichen Bild digitaler Inkompetenz im deutschen Schulwesen bei. Zum Leidwesen von engagierten Schulleitungen und Kollegien, die ihre Schulen auf Vordermann gebracht haben – oder gerade dabei sind.

  • Faule Säcke unter den Lehrerinnen und Lehrern fordern von ihren Schülerinnen und Schülern, lernbereit zu sein, haben an sich selbst aber schon seit Jahren, oft seit Jahrzehnten nichts getan, um Schritt mit der Entwicklung der Gesellschaft zu halten – geschweige denn, wichtige Entwicklungen mitzutragen und zu gestalten. Arbeitspsychologisch ist es hierbei sicher nicht immer sinnvoll, Lehrerinnen und Lehrer zumeist uneingeschränkt zu verbeamten. Solche Erwerbstätigen sind dann nicht mehr genügend motiviert, die eigene Employability, die eigene Beschäftigungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt, mindestens zu erhalten oder sogar zu verbessern. Sie dürfen sich zu sicher fühlen in ihrer Unzulänglichkeit.

  • Faule Säcke in den Schulministerien gefallen sich darin, vermeintlich wichtige Titel vor sich herzutragen und sich als vorgesetzte Stellen wichtig zu machen, leisten inhaltlich aber zu wenig – geschweige denn, dass sie organisatorisch mit Tatkraft und Hands-on-Mentalität durchgreifen, um die Schulen flächendeckend digital anzuschieben.

  • Faule Säcke unter Schulleiterinnen und -leitern glauben, ihre Pflichten zu erfüllen, wenn ihre Lehrkräfte von Zeit zu Zeit, mehr oder weniger regelmäßig, zu ihren Schulgemeinden Kontakt aufzunehmen. Hierbei besonders hervorzuheben sind Schulleitungen, die eigentlich gar nichts mit digitaler Fitness zu tun haben wollen. Es ist ihnen zu anstrengend, zu unbequem. Für einige gilt: Digitalisierung? Was ist das? Kennen sie nicht, wollen sie nicht. Stört nur die Routine. Anstatt sich dafür zu engagieren, ihre Schule nach vorne zu bringen. Schule als falsches Etikett! Denn was – bitteschön – soll eine Schule von ihren Schülern fordern, die selbst das Prädikat „Versager“ trägt?

  • Faule Säcke „Spezialfall“ sind die Arbeitsverweigerer in den Kollegien. Sie verdrücken sich aus ihrer pädagogischen Pflicht unter dem Vorwand, der Distanzunterricht funktioniere sowieso nicht. Deshalb lassen sie es gleich sein. Eine unrühmliche – wenn auch sehr schmale - Spitze aller faulen Säcke.

Warum Kinder an den faulen Säcken leiden

So ist es ein bunter Mix aus Versagen, Ignoranz und Inkompetenz, an dem viele Akteure des deutschen Schulwesens beteiligt sind. Man müsste eigentlich – viele Eltern und Schüler würden dies nach ihren Erfahrungen unterschreiben – vom deutschen Schulunwesen sprechen. Denn viele Kinder und Jugendliche leiden nicht an gelungenem Distanzunterricht. Sie leiden an den nicht gelungenen Fällen. Da ist es kein Wunder, dass Kinder sich alleingelassen und zurückgesetzt fühlen, an Arbeitsblättern oder der Technik verzweifeln und wegen verstetigter Misserfolge an sich und ihrem Leben zweifeln. Wenn dann auch noch der Stress zu Streit in der Familie führt, ist nicht überraschend, wenn Kinder sagen: „Mami, ich will nicht mehr leben.“

Digitalisierung ist eine Bringschuld jedes Einzelnen

Ein so ambitioniertes Ziel wie die flächendeckende Digitalisierung der Schulen kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen: Schulpolitik, Schulleitungen, Kolleginnen und Kollegen, Eltern, Schülerinnen und Schüler. Jede einzelne Person muss ihren Teil beitragen.

Sicher gibt es unter Digitalisierungsversagern auch Eltern, die es verpasst haben, ihre Kinder darauf vorzubereiten, unter den – keineswegs neuen – Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu lernen. Leider sehen einige Eltern es offenbar als nicht so wichtig an, ihre Kinder mit zeitgemäßer Hard- und Software auszustatten. Dann ist das neue SUV im Zweifel doch wichtiger. Sozialbehörden gehören ebenfalls zu den Bremsklötzen. Sie müssen begreifen, dass digitale Teilhabe an der Schule ein Grundrecht ist. Handelsübliche Computer zum Lernen, wie Laptops, Tablets oder Desktops, sind heute nun einmal kein Luxus. Von deutlich überteuerten Lifestyle-Produkten, etwa der Marke Apple, einmal abgesehen.

Lehrerinnen und Lehrer, die sich bisher schwer tun, müssen offener und lernbereiter für Neues sein, um sich das anzueignen, was sie brauchen, digital arbeiten zu können. Nach nunmehr drei Jahrzehnten Mikrocomputern in der Arbeitswelt, gut zwei Jahrzehnten Internet für die breite Masse und eineinhalb Jahrzehnten Social Media sollte es selbstverständlich sein, damit umgehen zu können. Wer das nicht kann, hinkt nicht nur im praktischen Leben hinterher, sondern auch bei der beruflichen Tätigkeit.

Schulleitungen und Schulministerien, die hochprofessionelle Plattformen mit windigen Datenschutz-Ausflüchten verhindern wollen, müssen ihre so demonstrierten verheerenden Wissenslücken schließen und sich ohne ideologische Scheuklappen - und vor allen Dingen marktoffen - an globalen Marktführern orientieren, denn Digitalisierung ist global. Anstatt den führenden Technologiekonzernen mit halbherzigen, amateurhaften und deshalb unzulänglichen Lösungen in großer Distanz aussichtslos hinterher zu laufen.

Mancher will es nicht wahrhaben. Aber verliert Deutschland den Anschluss, werden große Teile heutiger und künftiger Generationen in Deutschland verarmen. Das ist keine Dystopie, sondern folgt zwingend daraus, dass sich die ökonomischen Gewichte in der Welt gerade verschieben. Wenn Deutschland zu den Verlierern gehört, wird auch der Staat verarmen - mit allen Konsequenzen.

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https://www.focus.de/politik/deutschland/faule-saecke-lehrer-wursteln-sich-durch-die-pandemie-und-schuelern-droht-not-abitur_id_12993410.html



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