- Soziale Kompetenz - vernachlässigt, unterschätzt
(Illustration: Gerd Altmann/Pixabay) |
Was ist mit persönlichen Fähigkeiten heute gemeint?
Viele
von uns können sich noch an die Bewertung unseres Betragens in der
Schule im Zeugnis der Grundschule erinnern. Da gab es eine Note für die
"persönliche Führung", die ausdrücken sollte, ob wir uns im Unterricht
benehmen konnten. Sozusagen ein Schulknigge. Heute kämen wir nicht mehr
weit damit, weil es zu eng gefasst ist. Folgerichtig hat man es
abgeschafft.
Denn heute versteht man unter den persönlichen Fähigkeiten vorrangig die soziale Kompetenz,
weil man erkannt hat, dass darin grundlegende Lernfähigkeiten
zusammentreffen. Der Mensch ist Homo Sociologicus (vgl. Lord Dahrendorf,
Ralf: Homo Sociologicus. 1958) - vorrangig ein soziales Wesen, das erst
über soziale Lernprozesse zu einem Teil der Gesellschaft wird.
Eigentlich eine Binsenweisheit. Doch scheint vielen nicht mehr bewusst
zu sein, dass die Soziabilität - so werden die sozialen Fähigkeiten auch
zusammengefasst - ebenso erlernt werden muss. Ist also die Soziabilität
im Kindesalter nicht ausreichend entwickelt, beherrscht dieses sozial
unterentwickelte Kind auch nicht das soziale Lernen. Ein Teufelskreis.
Das große Missverständnis über soziale Kompetenz
Soziale
Kompetenz wird oft missverstanden als die Fähigkeit, sich in sozialen
Beziehungen zu behaupten, also individuelle Freiheiten erfolgreich zu
behaupten. Es ist zu vermuten, dass bei dieser Interpretation der
aktuelle Zeitgeist einer in Teilen egoisierten Gesellschaft eine
gewichtige Rolle spielt. Ich möchte ausdrücklich heute nicht mehr von
der individualisierten Gellschaft sprechen - der Vorstufe zur
Egoisierung. Die Entwicklung ist bereits weiter fortgeschritten.
Soziale Kompetenz - und was das mit dem Krieg aller gegen alle zu tun hat
Vielmehr
fasst die soziale Kompetenz Fähigkeiten zusammen, die sich darauf
richten, ein sinnvolles Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft
zu bewältigen. Viele kommen in ihrem egoisierten Drang nach Freiheit
nicht darauf, dass erst die respektvolle Abwägung zwischen eigener
Freiheit und dem Schaden, den ich dadurch möglicher Weise anderen
zufügen kann, zur sozialen Kompetenz gehört. Das für die Abwägung
erforderliche moralische Bewusstsein ist damit Grundvoraussetzung für
die Freiheit des Individuums. In einer Demokratie, in der der Staat auf
die Unterwerfung des Individuums verzichtet, es damit aber auch in
gewisser Weise dem Willen anderer Individuen ausliefert, ist diese
Fähigkeit unentbehrlich, um konstruktive Prozesse der Gesellschaft zu
initiieren und erfolgreich zu Resultaten zu führen. Ohne dies würde jede
Gesellschaft zerfallen, bis ein Leviathan (vgl. Hobbes, Thomas:
Leviathan - Vom Krieg aller gegen alle. 1651) die Macht wieder an sich
reißen muss, um die Menschen - unter Zwang - zu befrieden.
Der heimliche Lehrplan - und was hat Sozialkompetenz mit der Digitalisierung zu tun?
Damit
die Reform des Schulunterrichts in Richtung digitaler Modernisierung
mit ihren hohen Ansprüchen an Lernprozesse gelingen kann, sind somit
soziale Fähigkeiten unverzichtbar. Denn die Digitalisierung von
Unterricht und Lernen verändert die Beziehungen zwischen Lehrer,
Lerngegenstand und Lernendem. Aber dass die sozialen Fähigkeiten immer
stärker in die Defensive geraten, könnte sich zum schwerwiegenden
Hindernis der unaufschiebbaren Schulmodernisierung auswachsen.
Schule
hat die hoheitliche Aufgabe, aus den Kindern gesellschaftsfähige - und
dies impliziert immer auch anpassungsfähige - Individuen zu machen.
Neben dem offiziellen fächerorientierten Lehrplan gibt es somit einen
"heimlichen Lehrplan" (vgl. Parsons, Talcott: Die Schulklasse als
soziales System. 1955), der in die Persönlichkeitsentwicklung
hineinwirken soll. Je autoritärer ein Herrschaftssystem ist, etwa in
plutokratischen (z.B. Brasilien), theokratischen (z.B. islamische
Länder) oder ideokratischen (z.B. das kommunistische China) Systemen,
desto enger ist der Kanon sozialer Normen für das Verhalten in den
Schulen gefasst.
In
praktizierten Demokratien hingegen ist der Kanon Ergebnis eines freien
Diskurses. Allerdings ist dieser Diskurs nicht unendlich frei, sondern
unterliegt den Grenzen gesellschaftlicher Willensbildung. Da in einer
Gesellschaft immer das Herrschaftsprinzip gilt, egal wer der Souverän
ist, werden soziale Normen deshalb frühzeitig über das Schulsystem an
den Nachwuchs herangetragen. Das ist nichts Unheimliches, sondern
unabdingbarer Kern kindlicher und jugendlicher Sozialisation, um in der
Gesellschaft später zurechtkommen zu können.
Soziales Lernen - universale Basis allen Lernens
Das
Schulgesetz etwa ist die institutionalisierte Form des "Heimlichen
Lehrplans" hierzulande. In unserer praktizierten Demokratie gehört zu
den sozialen Normen, dass sich ein Individuum durch Selbstregulation
interaktiv mit dem sozialen Umfeld die nötigen Handlungsweisen
erschließt und verinnerlicht. Das ist das soziale Lernen - in komplexen
Gesellschaften ein äußerst anspruchsvolles Lernen, dass an zwei
wesentliche Voraussetzungen geknüpft ist:
Dass
Kinder auf ihrem Weg genügend Gelegenheiten zum sozialen Lernen haben.
Und dass die erwachsenen Bezugspersonen die für die Gesellschaft
existenziell wichtigen Normen in die Interaktionen mit dem Kind hinein
reflektieren können.
Leider
gehen die Gelegenheiten, in denen Kinder sich über die gesamte
Entwicklungsphase der Kindheit hinweg in dieser Weise zu sozial fähigen
Menschen heranbilden können, immer mehr zurück. Oftmals verengt sich ihr
soziales Umfeld auf Spielekonsolen, Smartphones und weitere
elektronifizierte Beschäftigungen. Nicht selten werden Kinder vor dem
Fernseher "zwischengelagert". Naturgemäß kann z.B. ein Videospiel, das
die Kinder in klischeehafte Karikaturen der wirklichen Welt entführt,
keine sozialen Beziehungen in der unmittelbaren Umgebung ersetzen.
Dazu
kommt, dass Eltern häufig nicht mehr als gesellschaftliche
Repräsentanten des notwendigen Regelkreislaufes aus "Einhaltung von
Normen" auf der einen Seite und "Sanktionen bei Devianz" (normativ
abweichendes Verhalten) auf der anderen Seite dienen können. Sie
übernehmen stattdessen die Rolle von Kumpeln, Freunden und manchmal auch
von Verbündeten. Ein dem Erziehungsauftrag nicht immer förderliches
Rollenverständnis. Es gibt auch die Menschen, die ihre Kinder zu Gunsten
ihrer persönlichen Weltauffassung pro oder anti etwas
instrumentalisieren. Dabei nehmen sie zuweilen keine Rücksicht darauf,
dass ihre Kinder noch gar nicht in dem Alter sind, dies geistig
formal-logisch mitzuvollziehen. Solche ideologische Vereinnahmen wirken
sich regelmäßig verheerend auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern
aus. Dann ist die kindliche Entwicklung umso stärker darauf angewiesen,
dass die Schule ihnen die gesellschaftlich relevanten Normen vermittelt
und ihnen darin Halt gibt. Das Regulativ der Schule ist deshalb
besonders stark gefordert. Dann prallen dort aber die gesellschaftlich
verbrieften Normen und die fehlenden sozialen Fähigkeiten des Kindes
zusammen. Ein potenziell konfliktäres Handlungsfeld.
Wenn aus Schulen opportunistische Bittsteller werden
Doch
statt auf den verbrieften Normen zu bestehen, versuchen Schulen häufig,
dem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Dadurch transformieren sie Stück für
Stück zu opportunistischen und unterwürfigen Bittstellern, ohne
Anspruch auf Durchsetzung der notwendigen sozialen Normen. Die Praxis
zeigt, dass es Schulleitungen und Lehrer heute seltener wagen, mit aller
Konsequenz für die Einhaltung der Regeln zu sorgen. Hier ist unbedingt
umzusteuern. Denn es geht zu Lasten aller Kinder, aber auch der ganzen
Gesellschaft. Die Mehrheit der Eltern dürfte sich zudem wünschen, dass
sich Schulen nicht von egoisierten Einzelinteressen vereinnahmen lassen.
Denn alle haben Anspruch darauf, dass das Schulsystem dem offiziellen,
aber auch dem "heimlichen" Lehrplan gerecht wird, damit ihren Kindern
die Chance gewahrt bleibt, zu erfolgreichen Mitgliedern der Gesellschaft
zu werden.
Berechtigte Kritik
Kritiker
werfen dem Schulwesen vor, nicht genügend oder das Falsche dafür zu
tun, dass junge Menschen die nötigen Kompetenzen in die Gesellschaft
mitbringen. Aus der Luft gegriffen ist dieser Vorwurf angesichts der
realen und praktischen Situation in den Schulen sicher nicht.
Sozialkompetenzen müssen deshalb deutlich mehr Gewicht bekommen, um den
digitalen Umbruch im deutschen Schulwesen zum Erfolg führen zu können.