- Schüler im Fernunterricht: Der Sprung in den Pool ohne Wasser

 

(Foto: Gerd Altmann/Pixabay)

Jede Schule mit einer Lernplattform, die es verdient, so genannt zu werden, muss zunächst dafür sorgen, dass die Schülerinnen und Schüler mit einheitlichen Vorgängen zu tun haben. Dies betrifft sowohl die Bereitstellungs- und Bearbeitungswege von Lern- und Unterrichtsinhalten, als auch standardisierte Vorgänge bei der Erbringung und Vorlage von Leistungen.

Mein Eindruck ist, dass hier gerade massive handwerkliche Fehler gemacht werden. Zudem wurschteln viele Schulen regelrecht herum. Sie tun das, was sie routiniert können: Lehrpläne erstellen - hier Lehrpläne für den Fernunterricht. Es ist sicher eine wichtige Aufgabe, Lerninhalte auf digitales Lernen und Fernunterricht abzustimmen, doch zäumt man hier das Pferd von hinten auf. Denn es braucht zunächst eine Basis, auf der Schüler erfolgreich arbeiten können. Das ist so, als ob ich schon einmal die Schwimmstile erarbeite, inklusive der Bewertungskriterien, aber vergessen habe, den Pool mit Wasser zu füllen. Warum dies mehr Schaden anrichten kann, als es nützt, erläutere ich nachfolgend.

Die aufgeräumte Werkzeugkiste im Kopf

Eine wichtige geistige Schlüsselfähigkeit im Umgang mit digitalem Lernen und Fernunterricht liegt im strukturierten Denken und damit in der Problemlösefähigkeit. Angesichts der wachsenden Unordnung in den äußeren Reizen, denen wir und unsere Kinder täglich ausgesetzt sind, beißt sich hierbei die berühmte Katze in den berühmten Schwanz.

Denn einerseits ist diese Unordnung ursächlich für die Abnahme kognitiver Ordnung. Schließlich ist unser Gehirn der Spiegel unserer realen Umwelt, in dem alle Reize ihre Fingerabdrücke hinterlassen. Ein besonders anschauliches Beispiel für solche Spiegelungen ist, dass man selbst gähnen muss, wenn man jemand anderes gähnen sieht. Verantwortlich sind die so genannten Spiegelneuronen. Chaos in der Umwelt führt somit zu Chaos im Kopf.

Andererseits ist äußerliche Unordnung erst die Folge ungeordneter kognitiver Prozesse - einfach gesprochen: ungeordneter Gedanken, die eine ungeordnete Umwelt erschaffen. Da aber kognitive Ordnung fundamental für die Ausbildung digitaler Kompetenz ist, lässt sich erahnen, dass die Digitalisierung von Unterricht und Lernen nur gelingen kann, wenn dabei innerliche und äußerliche Ordnung zusammenlaufen. Zielloses Surfen im Internet oder unkoordinierter Aktionismus im Umgang mit digitalen Medien haben mit Letzterem bekanntlich nichts zu tun. Und einfach ´mal ein paar Buttons zu klicken, ist ebenso wenig sinnvoll.

Vielmehr benötigt man beim Lernen mit Hilfe digitaler Medien angesichts der enormen Vielfalt von Möglichkeiten besonders klare Strukturen. Denn man braucht Erfolgserlebnisse im Umgang mit einer neuen Praxis. Das gelingt am besten, wenn man ein neues Anwendungsproblem auf strukturierte Weise meistert. Hierbei hängt die Fähigkeit, Probleme zu lösen, unmittelbar mit der Fähigkeit zum strukturierten Denken und - darauf folgend - Handeln zusammen.

Je weniger ein Schüler sich selbst strukturiert durch ein neues Problem führen kann, desto gefährdeter ist selbstverständlich sein oder ihr gesamter Schulerfolg. Beim eLearning und im Fernunterricht potenziert sich diese Gefahr, denn wer schon beim Umgang mit Papier und Stift nur schwer Strukturen im Erfassen und Lösen einer Aufgabe auf die Beine bringt, wird bei einer multi-optionalen Lernumwelt schnell ins Schwimmen geraten.

Auch sonst erfolgreiche Schüler gefährdet

Doch auch bei sonst erfolgreichen Schülern lässt sich mit einer falschen Herangehensweise an das eLearning und den Fernunterricht einiges kaputt machen. Denn unnötige Misserfolge, die häufig aus fehlender Kontrolle über die Tools oder unklaren Arbeits- und Kommunikationswegen resultieren, zeitigen schnell das Gefühl der Hilflosigkeit. Ein Engramm des Kontrollverlustes entsteht - bis hin zu einer assoziativen Brücke, einer schwer auflösbaren biochemischen Verknüpfung im Baumeister Gehirn. Diese Erinnerung ist extrem löschungsresistent. Sie lässt sich also nicht so leicht wieder rückgängig machen. 

In der geistigen Verarbeitung (Kognition) schränkt sie die Aufnahmefähigkeit für nachfolgende Lernprozesse ein, setzt die Aufnahmebereitschaft, also die Motivation, auf Passiv und führt auf der emotionalen Ebene zu gesundheitsgefährdender Depressivität. Eine für schulische Lernprozesse desaströse Triade.

Der potenziell erlebbare Kontrollverlust bei der Entgegennahme von Aufgaben, ihrer Bearbeitung und Rückübermittlung im Fernunterricht sowie bei der Teilnahme an Online-Unterrichtseinheiten kann somit das Gesamtprojekt der Schuldigitalisierung gefährden. Deshalb ist es umso wichtiger, dass man bereits im Vorfeld klare Rahmenbedingungen für alle steckt - etwa in top-down von schulübergreifend bis hin zu fächerspezifisch organisierten Handlungsleitlinien, Handbüchern o.ä.. Und dies betrifft am wenigsten die Unterrichtsinhalte, sondern primär vorangestellt die Kulturtechniken zu deren Erschließung und Bearbeitung. Das digitale Zeitalter erweitert diese Techniken ganz enorm. Ihre Bandbreite bewirkt die ungleiche Verfügbarkeit und Expertise der neuen Unterrichts- und Lerntechniken. Dies wird gerne als digitale Spaltung bezeichnet. Gesellschaftlich lässt sich dem nur entgegentreten, wenn man das Projekt der Schuldigitalisierung nicht versemmelt, indem man falsch damit anfängt.

Wenn dies schon für die Schülerinnen und Schüler gilt, zwingt sich die Frage danach auf, was denn mit den Lehrerinnen und Lehrern ist. Dazu wird noch ein eigener Artikel erscheinen.