- Digitaler Unterricht: Riesenchance für die Inklusion

(Foto: Gerd Altmann/Pixabay)

Abgesehen davon, dass sich jede Binnendifferenzierung mit gelungenem digitalem Unterricht effektiver und effizienter umsetzen lässt, birgt die Digitalisierung enorme Chancen mindestens für die zielgleiche Inklusion. Das wird offenbar häufig übersehen. Viele Kinder mit Mobilitätseinschränkungen, Hör- oder Sehbehinderungeen, aber auch mit Handicaps wie ADHS oder Autismus bis zu einem gewissen Grade, kommen bereits heute nicht ohne digitale Hilfsmittel aus, um sich Lerninhalte zu erschließen. Und viele von ihnen sind darin sehr geübt. Digitalisierung von Unterricht und Lernen vermag, Grenzen zu überwinden, die im konventionellen Präsenzunterricht dem nachhaltigen Lernerfolg im Wege stehen. Sie versetzt betroffene Schülerinnen und Schüler in die Lage, selbstgesteuert Lerninhalte zu erschließen und lässt sie ihre Beeinträchtigungen in vielen Fällen völlig vergessen.

Individuelle Beeinträchtigungen - Individualisierte Lernwelten

Digitale Lehre hilft bei der Individualisierung der Lernumwelt, das heißt sie passt die Lernbedingungen an das an, was den Schülern möglich ist. Entsprechend dem ressourcenorientierten Ansatz der Rehabilitationslehre fragt man nicht mehr danach, was jemand nicht kann, sondern danach, was er oder sie kann. Und das ist in den einzelnen Handicap-Bildern eine ganze Menge. Die früher vorhandenen Lücken zwischen Wünschenswertem und Machbarem kann die Digitalisierung von Lernen und Unterricht inzwischen in sehr vielen Fällen schließen.

Ist etwa jemand im Hören oder Sehen beeinträchtigt, findet man dafür geeignete Ein- und Ausgabetechniken. Leidet jemand unter spastischen Beeinträchtigungen, muss er oder sie sich nicht mehr um das Ärgernis - nicht vorhandene - Barrierefreiheit von Schulgebäuden kümmern.

Und selbst emotionale Beeinträchtigungen lassen sich durch geeignete digitale Lernmethoden gut auffangen, da sie sich an Konzentrations- und Ausdauerfähigkeit anpassen lassen. Zum Beispiel kann man mit interaktiven Matrizen arbeiten, die feste Konzentrations- oder Ruhephasen bei der Bearbeitung enthalten. Kindern, die keine Lernerfolge erzielen können, weil sie nicht zu einer produktiven Beziehung zu einem einer sozialen Gruppe fähig sind, eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten zur Selbstwirksamkeit (vgl. "Inklusion - zu Lasten aller Beteiligten?" vom 9. Nov.). Grundsätzlich ist das beschriebene Modell für jedes Fach geeignet, das auch im normalen Präsenzunterricht gegeben wird.

Mehrwert digitaler Lehre

Viele Handicaps, die im vollständigen Präsenzunterricht den Lernerfolg des Betroffenen stören, etwa durch den emotionalen Verarbeitungsaufwand sozialer Prozesse im Klassenverband, z.B. bei Autismus oder ADHS, können zwar durch digital-interaktive Lernphasen ausgeglichen werden. Lehrer haben hierbei die anspruchsvollen Aufgaben, 1. das digitale Lernen zu gestalten, 2. den Lernerfolg zu überprüfen, 3. korrigierend zu wirken - also genau das, was sie im Präsenzunterricht auch praktizieren. 

Allerdings kommen in der digitalen Lehre Inhalte und Methoden zur Anwendung, die im konventionellen Unterricht schlicht unmöglich sind. Die hierfür nötigen klaren Strukturen in der Anwendung der Tools, in der Kommunikation mit den Schülern und in der Leistungsbewertung (vgl. "Fernunterricht - Desaster I: Der Sprung in den Pool ohne Wasser" vom 15. Nov.) stehen keineswegs in Widerspruch zur ebenso nötigen Kreativität beim Lernen. Im Gegenteil! Sind die Rahmenbedingungen des Lernens geklärt, können sich die Schüler entlastet auf ihren Lerngegenstand konzentrieren und verlieren keine Energie in unproduktiven Nebentätigkeiten. Solche können aus nicht funktionierenden Prozessen im Umgang mit Tools oder mit der Kommunikation bestehen. 

Zwei Seiten einer Medaille: Sozialer Schulverband und Digitale Distanz

Bei allen Vorteilen, die digitaler Unterricht für den fächerbezogenen Lernerfolg hat, ist allerdings genauso unbestritten, dass das soziale Lernen im Klassenverband für Schülerinnen und Schüler unverzichtbar bleibt. Allerdings lässt sich das Lerngeschehen mit Hilfe der Digitalisierung leichter in die komplementären Lernformen "Soziales Lernen" und "Fächerbezogenes Lernen" differenzieren und an individuelle Voraussetzungen der Lernenden anpassen. Unterrichtseinheiten, in denen das soziale  Lernen stärker im Vordergrund stehen soll, ergänzen digitale Unterrichtseinheiten. Kindern, die im Klassenverband durch soziale Defizite schnell zu so genannten Opfern werden, bleiben so die Chancen auf fächerbezogenen Lernerfolg genauso erhalten wie Kindern, die auf die soziale Bindung an ihre Klasse emotional angewiesen sind.