- "Tacheles" Die Lehrerkolumne: Corona-Präsenzunterricht ... aus Angst vor der Wahrheit?

 

(Foto: Gerd Altmann/Pixabay)

Sehr viel ist geschlossen

Theater, Restaurants, Konzerthallen, Tourismusstätten, Clubs, Kultur-, Freizeit- und Sporteinrichtungen aller Art. Sehr viele Arbeitnehmer und Selbstständige haben sich ins Home Office zurückgezogen. Hochschulen sind wieder in die digitale Distanzphase zurückgekehrt. Und doch will diese Form von Lockdown einfach nicht fruchten und die Infektionszahlen und schweren Verläufe wieder deutlich nach unten zwingen. Die Allermeisten halten sich an die viel beschworenen AHAplusLüften-Regeln. Trotzdem gibt es auch weiterhin keine Entwarnung. Was ist anders als im Frühjahr, als der Lockdown uns - vorerst - den Hintern rettete?

Widersprüchlichkeiten

Wer Eins und Eins zusammenzählt, landet unwillkürlich bei den einzig verbliebenen Orten, an denen sehr große Mengen an Menschen für längere Zeit unter einem Dach zusammenkommen. Und das sind - taraah: proudly to present - die Schulen. Genau, DER Unterschied zum Frühjahr. Die Bundeskanzlerin hat Recht: So viele Partys kann es gar nicht geben, die das Virus derartig in die Fläche hätten verbreiten können, wie wir es heute erleben.

Wenn wir also schon so scharfsinnig sind, dass wir diesen Unterschied erkennen, ist es bestimmt nicht abwegig, doch einmal die bescheidene Frage zu stellen, warum der Präsenzunterricht diesmal das goldene Kalb ist, das um Gottes Willen nicht angerührt werden darf. Welche Gründe sind schwerwiegend genug, den Wechsel zumindest in den so genannten Hybrid-Unterricht, also in den gemischten Modus aus Phasen des Präsenz- und des digitalen Distanzunterrichts, zum Tabu zu erklären, obwohl die Änderung des Status Quo von WHO und RKI dringend angemahnt wird? 

Angst vor der Wahrheit? - Krisenanfälliges Erwerbsmodell

Dass hierbei die Wirtschaft sicher eine überragende Rolle spielt, ist eine Binsenweisheit. Denn dass bei einer Erwerbsstruktur mit stark angewachsenem Niedriglohnsektor die Wirtschaft nicht auf die Manövriermasse der vielen prekär Beschäftigten verzichten will, ist nachvollziehbar. Leider besteht diese Masse billiger Arbeitskräfte weit überwiegend aus Frauen. Und viele von ihnen haben Kinder im schulpflichtigen Alter. Was also, wenn die Schulen nicht mehr durchgängig offen, und statt dessen die Kinder unbeaufsichtigt zu Hause wären, während die Mütter ihrer Erwerbsarbeit nachgehen? Viele Mütter würden natürlich ihre Arbeitgeber drängen, sie freizustellen oder in ein anderes Arbeitszeitmodell zu übernehmen. Schlecht für die Planung der Unternehmen. Also müssen die Schulen ihrer Krisenfunktion zur Verwahrung von Kindern uneingeschränkt nachkommen. Denn von effizientem Präsenzunterricht, von dem die Kinder profitierten, kann man zur Zeit eher nicht sprechen (vgl. "Präsenzunterricht: Unsoziales, unökonomisches und unethisches Ungleichgewicht" vom 28. Nov.)

Dazu kommen unzählige Alleinerziehende, die gar nicht erst auf einen Partner zählen können, und deshalb der Erwerbsarbeit nachgehen müssen. Und wehe, man möchte lieber für seine Kinder da sein. Dann kommt der böse Brief von der ARGE, mit dem unterschwelligen Anwurf, man möge sich bitte einen Job suchen, denn Hartz4 sei schließlich keine soziale Hängematte für leidenschaftliche Mütter.

Gedankenspiel 1

Man muss sich nur einige Jahre zurückversetzen. In eine Zeit, in der Frauen noch nicht in dieser Größenordnung als Konsum- und Arbeitsheer zur Befeuerung von Renditephantasien in der Hausse (Boom von Aktienkursen) der Shareholder Values an den Börsen eingesetzt waren. Als man als Frau noch frei wählen durfte, eine Familie zu haben ODER einen zeitaufwändigen Job. Als man noch Ehepartner hatte, die ein so genanntes Ernährereinkommen hatten, so dass man sich hundertprozentig um das soziale und emotionale Wohlbefinden seiner Kinder kümmern konnte, ohne angegiftet zu werden, warum man denn nicht erwerbstätig und "nur Hausfrau" sei. Und als man glaubte, die proletarische Familie - das dominante Erwerbsmodell der breiten Masse zu Zeiten unserer Urgroß- und Großeltern, in dem Vater UND Mutter ... und am besten auch die Kinder arbeiten MUSSTEN, um der Familie das Überleben zu sichern - lange hinter sich gelassen zu haben. Dann hätten wir jetzt sicher nicht den Zankapfel "Offene Schulen im Regelbetrieb Präsenzunterricht" in seiner gegenwärtigen Form.

Angst vor der Wahrheit? - Das Versagen vor der digitalen Herausforderung

Die vorauslaufenden Artikel dieses Blogs formulierten zentrale Aspekte, damit Digitalisierung von Unterricht und Lernen in der nötigen Breite und Tiefe gelingen kann. Damit verbunden sind Herausforderungen an sachkundiges Engagement, zielgenaue Unterstützung und verlässliche Koordinierung der den Schulen vorgesetzten Exekutive. Das sind namentlich Schulträger und Schulministerien. Vernünftig gerahmt werden muss dies durch engagierte und sachkundige Schulpolitik. Es gibt heute eine Minderheit von Schulen, denen der Aufbruch ins digitale Zeitalter bereits gelungen ist. Es gibt hingegen die Mehrheit von Schulen, die immer noch in alten Schultraditionen fest stecken. Man muss sagen: wieder fest stecken. Denn einigen von ihnen war im Frühjahr der Durchbruch bei der Anwendung von digitaler Lehre und Lernmanagementsystemen geglückt. Allen Schulen ist aber nach den Sommerferien wieder der übliche Präsenzunterricht im Regelbetrieb verordnet worden. Der aktuelle Teil-Lockdown werde beibehalten, um die Schulen offen zu halten, wird man nicht müde zu betonen. Schulleitungen, Lehrerinnen und Lehrer lässt man im Stich bei den Anforderungen und lässt sich statt dessen medienwirksam bei der Übergabe der ersten Notebooks für Lehrkräfte ablichten, die man generös zur Verfügung stellt.

Doch man könnte es auch so sehen: Sehr viele Menschen außerhalb und innerhalb der Schulen bringen  große Opfer dafür, dass die Verantwortlichen nicht Farbe dafür bekennen müssen, weder Sachkunde, noch eine Mindestahnung zu besitzen. Und zwar davon, wie man die vollmundig vor sich hergetragenen Lippenbekenntnisse für eine zukunftsorientierte Bildung unserer Kinder praktisch und schlüssig umsetzen kann. Am Geld kann es sicher nicht liegen. Wohl eher daran, dass zu viele Positionen schlichtweg nicht mit denen besetzt sind, die den Job richtig machen können - und das quer durch die Republik. Was in PräCorona-Zeiten niemandem aufgefallen war.

Gedankenspiel 2

Stellen wir uns hingegen einfach mal vor, die Schulen würden konsequent bei der Umsetzung von digitalem Unterricht und Lernen unterstützt - finanziell-materiell, organisatorisch, personell. Alle Schulen hätten einen gemeinsamen Standard digitaler Lehre, zu dem obligatorisch der Fernunterricht gehört. Und alle Lehrenden und Lernenden zuverlässig und strukturiert arbeiten können. Keine Schule - und damit auch keine Schüler und Lehrer - würden abgehangen. Alle hätten aufeinander abgestimmt genau die gleichen Möglichkeiten und Chancen. Alle wären vernetzt, sogar Schulen mit anderen Schulen - und unterstützten sich kollaborativ in der Krise. Dann hätten wir jetzt sicher nicht den Zankapfel "Offene Schulen im Regelbetrieb Präsenzunterricht" in seiner gegenwärtigen Form.


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