- Lehrer im Fernunterricht: Schule im Blindflug - Lehrer allein zu Hause
(Illustration: Gerd Altmann/Pixabay) |
Die Anmerkung eines Kollegen geht mir nicht aus dem Kopf. Er finde es schade, dass das, was er sich im coronabedingten Fernunterricht während der letzten Phase im vergangenen Schuljahr angeeignet habe, jetzt schon wieder vergesse, weil man am Erreichten nicht anknüpfe: "Seitdem ist nichts mehr passiert." An meiner Schule lief es - immer gemessen an den Möglichkeiten - richtig gut. Man war eingespielt. Hat sich unter viel persönlichem Einsatz mit den Tools der Lernplattform vertraut gemacht und konnte nach einigen Wochen mit gewisser Routine damit umgehen.
Schule am Roulette-Tisch
Tatsächlich setzt man zur Zeit offenbar immer noch - von Bayern einmal abgesehen - völlig kompromisslos auf den Präsenzunterricht. Dabei steht die Sache auf tönernen Füßen - wie sich in den nächsten Tagen und Wochen zeigen dürfte. Angesichts der Probleme wirkt es verkrampft - dieses Thema soll uns an anderer Stelle noch beschäftigen.
Dabei gehen in den
Schulen die im Fernunterricht während des letzten Frühjahrs erworbenen
Fähigkeiten von Lehrern gerade wieder verloren. Ein normaler Vorgang,
der die Personalentwicklung berührt. Und doch gibt es immer noch kein
schlüssig strukturiertes Konzept des Weiterbildungsmanagements von
Lehrerinnen und Lehrern in diesem Feld. Man vertraut offenbar darauf,
dass sie - sollte es mal wieder nötig sein - sich schon irgendwie helfen
würden. Doch übersieht man dabei, dass genau das zu Flickwerk und
Wurschtelei an den meisten deutschen Schulen geführt hat, über die sich
einige in Bezug auf die letzte Fernunterrichtsphase beschweren. Die
Beschwerdeführer haben recht, denn so wird man eine gleichmäßige
Verteilung von Bildungschancen sicher nicht realisieren können.
Dadurch
wird es zum reinen Glücksspiel, ob Schulen der systematisch
strukturierte Einstieg in die Digitalisierung gelingt. Man macht sich
zum Spielball von Zufällen. Das wirkt schon als trauriges Armutszeugnis -
ziemlich wenig professionell, eher schon improvisiert, wie man es noch
aus Zeiten als Studentin oder Student kennt, als jeder letztlich für
sich selbst kämpfte. Man hat das Bild von Lehrern vor Augen, die sich -
im Arbeitszimmer am PC oder Notebook auf sich allein gestellt - in neue
Arbeitsprozesse mit digitalen Tools hinein graben. Doch im Kontext
"Schule" stehen moralisch aufgeladene Ziele wie die
Bildungsgerechtigkeit und letztlich die soziale Gerechtigkeit auf dem
Spiel. Das darf man nicht dem Zufall überlassen. Es ist nicht
einzusehen, dass ein Staat, der Hunderte von Milliarden für andere
Zwecke mobilisieren kann, ausgerechnet bei diesen Zielen versagt. Und
selbst wenn das Geld zur Verfügung gestellt wird, gewinnt man den
Eindruck, als ob die Exekutive danach wieder in einen selbstgefälligen
Schönheitsschlaf verfällt und die Schulleitungen mit ihren operativen
und strategischen Problemen alleine lässt. Hauptsache, die
Dienstmitteilungen zum Thema "Desinfektionsmaßnahmen und Maskenpflicht"
aus dem Schulministerium sind verständlich formuliert - und selbst das
waren sie in einigen Fällen nicht.
Ebenso wenig ist
einzusehen, dass es zum Roulette-Spiel verkommt, ob mein Kind eine
Schule erwischt hat, die sich weniger schwer tut, oder eine, an der die
Schulleitung höchstpersönlich auf der Digitalisierungsbremse steht. Man
wechselt schließlich auch nicht die Schule, wie man das Auto wechseln
kann. Es geht um die Zukunft von Menschen - damit aber der gesamten
Gesellschaft. Schade, dass diese Erkenntnis immer mehr zur hohlen Phrase
wird.
Wie geht es besser? - Ein Rückblick auf die digitale Revolution 2.0
Um die nötigen Maßnahmen zu entwickeln, sollte man einen Blick zurückwerfen - in die 1990er Jahre - , als die Wirtschaft sich den Schritt in die nächste Stufe der Digitalisierung verordnete. Es ging um die Einführung so genannter ERP-Systeme (Enterprise Resource Planning), die letzte informationstechnische und -logistische Lücken zwischen technischen und betriebswirtschaftlichen Unternehmensabläufen geschlossen haben. Der prominenteste Vertreter war die SAP AG im baden-württembergischen Walldorf - damals noch ein junges Projekt.
Es zog ein Pioniergeist in die Baby Boomer Generation mit ihren damals noch Studierenden, die begeistert am großen Projekt der nächsten digitalen Revolution der Gesellschaft mitzogen. Der erste digitale Aufbruch war übrigens die umfassende Umstellung auf informationstechnische Verarbeitungsprozesse überhaupt - wie die Lochkarte - und damit auf die ersten zentralen Rechenzentren gewesen.
Wir
waren noch ein relativ junges Land, und das neue Wissen ließ sich
leicht über die Hochschulen in den Nachwuchs transferieren. Eine Flut
von Diplomarbeiten zu betriebswirtschaftlichen und
informationstechnischen Innovationen bildete damals die erste Stufe der
Neugestaltung in den Unternehmen. Danach gingen die jungen Absolventen
entweder zu Consulting-Unternehmen oder direkt in die Unternehmen selbst
und stießen dort eine so massive Innovationswelle an, dass die eigenen
Väter - es waren überwiegend damals sehr gut verdienende
Familienernährer - reflexartig die Flucht antraten. Zu Hunderten standen
sie - je nach Regelung schon ab 54 Jahren - vor den Personalabteilungen
Schlange, nachdem die - äußerst feudalen - Vorruhestandsbedingungen
bekannt gegeben worden waren. Es gab sogar ein spezielles Gesetz dafür:
das Vorruhestandsgesetz, das nichts anderes war, als der Rahmen für die
Ablösung einer Generation, die vermeintlich nicht mehr
innovationsfreudig genug war, durch eine hinein drängende junge
Generation, die Blut geleckt hatte und unbedingt durchstarten wollte.
Die Vätergeneration hingegen wollte nur noch weg vom Neuen, das man sich
nicht mehr zumuten wollte. Das Konzept vom "Lebenslangen Lernen", das
es damals noch nicht gab, ist eine unmittelbare Konsequenz aus den
damaligen Erfahrungen.
Die mittleren Belegschaften, die ohne dieses Wissen waren, aber noch viel zu jung für den geordneten Rückzug, mussten nun jedoch irgendwie in die Lage versetzt werden, mit den Neuerungen zu arbeiten. Dazu bediente man sich zweier ergänzender Wege. Zum Einen setzte man ihnen die Jungen mit ihrem Tatendrang in die Abteilung, in der begründeten Hoffnung, sie würden die Älteren mit den Neuerungen befruchten und in die neuen Arbeitsstrukturen sozialisieren. Zum Anderen - und das war der nachhaltige Schlüssel zum Gesamterfolg - schickte man alle Belegschaften zu Fortbildungsseminaren, in denen sie mit den neuen Arbeitsprozessen und den dafür nötigen Tools vertraut gemacht wurden. Alle - wirklich alle - bekamen auf diese Weise geordnet und nachvollziehbar vermittelt, was sie brauchten. Das gab ihnen Sicherheit. Natürlich maulten viele, denn man war so etwas nicht gewohnt. Doch letztlich konnte die Digitalisierung 2.0 nur so gelingen. Nach wenigen Jahren waren alle Widerstände gebrochen. Und nicht wenige sagten hinterher: "Gut, dass es so gekommen ist. Heute hat man viel mehr Transparenz über das, was man macht, und viel mehr Effizienz."
Von Bremsklötzen und Kleinstaaterei
Das
waren, schon demografisch gesehen, völlig andere Rahmenbedingungen als
heute, und die Revolution gelang flächendeckend in der gesamten
Wirtschaft. Begleitet wurde sie durch das Aufkommen der Personalcomputer
und der Möglichkeit des so genannten verteilten Arbeitens. Man war also
nicht mehr auf ein zentrales System angewiesen, sondern konnte - je
nach Bedarf - die Informationen passgenau zur Verfügung stellen und
bearbeiten, mit immer komfortableren Tools.
Ausgangspunkt für
diese Entwicklung waren folglich die Hochschulen und Universitäten. Dies
ist in der deutschen Lehrerausbildung jedoch nicht möglich, da gerade
sie unter zunehmender De-Aktualisierung leidet. Wird man heute zum
Lehrer oder zur Lehrerin ausgebildet, erhält man eine sehr
konservativistische Sicht auf das System Schule. Daran ändern auch
angeblich neue pädagogische Konzepte nicht viel. Der Volksmund spricht
von den "alten Zöpfen", die man sprichwörtlich nicht abschneiden möchte.
Vielleicht in der Sorge, sonst alte Fürstentümer aufgeben zu müssen.
Lehrerausbildung aus dem - zuweilen ideologischen - Elfenbeinturm heraus
entpuppt sich immer mehr als Bremsklotz. So wirkt das heutige
Schulsystem in Deutschland auf den zukunftsorientierten Betrachter wie
die frühere Kleinstaaterei mit ihren geschlossenen Handlungs- und
Steuerungsfeldern. Bloß nichts von außen an sich heran lassen. Immer
schön unter sich bleiben. Das kann man schon sehr gut an der Regelung
des Zugangs zu den Arbeitsstellen für Lehrer ablesen. Und wenn schon
etwas Neues sein muss, dann wurschteln wir lieber für uns alleine herum -
siehe das so genannte Qualitätsmanagement, das dem fundierten
Qualitätsmanagement der Wirtschaft nicht annähernd entspricht, sondern
eher einem PR-Projekt.
Dies behält jedoch nicht den Anschluss an die Realität, die den Schulen gerade in Gestalt der Wirtschaft, aber auch der Hochschulen, in Sieben-Meilen-Stiefeln davon eilt. Was das deutsche Schulsystem braucht, ist eine nationale Innovationsanstrengung, die Lehrerinnen und Lehrer nicht nur ein Notebook vor die Nase setzt, sondern sie mit dem nötigen Wissen für den Umgang mit digitalen Innovationen bei Unterricht und Lernen ausstattet. Die hierfür nötigen Maßnahmen müssen national übergreifend abgestimmt werden. Dabei ist der wissbegierige Typus, der sich engagiert in Neues hineinarbeitet, ebenso zu berücksichtigen wie die vielen Kollegen und Kolleginnen, die bisher Berührungsängste haben und sich deshalb wesentlich unwohler und unsicherer mit solchen Innovationen fühlen. Dies ist schon allein deshalb nötig, um den Lehrerberuf attraktiv zu halten.
Womit wir beim nächsten Punkt sind: der Lehrerausbildung. Hier liegt die so genannte Krux, denn man muss in die Autonomie der Lehre eingreifen, um endlich voranzukommen. Denn leider trifft man erneut auf den ablehnenden und zögerlichen Typus, den wir schon von der zweiten digitalen Revolution kennen. Und wie zuvor, hat er zwei Möglichkeiten: Mitmachen oder sich ein anderes Betätigungsfeld suchen - etwa ein schönes Hobby für den (Vor-)Ruhestand.