- Corona-Präsenzunterricht: Unsoziales, unökonomisches und unethisches Ungleichgewicht

 


(Grafik: OpenClipart-Vectors/Pixabay)

Gesundheits- und Effizienzkiller Corona-Präsenzunterricht 

Der Präsenzunterricht leidet besonders stark unter den gegenwärtigen Corona-Bedingungen. Eine ähnlich schwierige Situation hat von uns sicher noch keiner erlebt. Dabei betrifft dieses Leiden sowohl Lehrende, als auch Lernende. Dass die Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern besonders belastet ist, und zwar, ohne dass man sich mit SARS-CoV-2 infiziert und daran erkrankt, hat eine der großen gesetzlichen Krankenkassen mit einer repräsentativen Studie belegt. Zwar wissen wir nun zuverlässig, dass rund zwei Drittel von uns mit größeren oder großen Sorgen zur Arbeit in der Schule gehen. Und dass jeder Vierte emotional erschöpft ist, zumindest während längerer Phasen. Dass damit der Präsenzunterricht zu einem potenzierten Gesundheitsrisiko wird, liegt auf der Hand. Und es ist sicher nicht zu weit gesprungen, dass dies langfristige Folgen für die Betroffenen, aber auch für die Attraktivität des Lehrerberufs generell, haben dürfte. Ebenfalls betroffen ist jedoch auch die Effizienz von Unterricht und Lernen - und damit die Lernenden.

Dauerstress ohne Pause

Wenn man mit Betroffenen in der Praxis spricht, hört man inzwischen häufiger als noch einige Wochen zuvor einen bestimmten Tenor heraus. Nämlich, dass der Präsenzunterricht ja gut und schön sei, es jedoch besser sei, endlich in den Hybrid-Unterricht zu wechseln, um den Stresspegel zu senken und die Situation zu entzerren. Denn zur Zeit bedeutet Präsenzunterricht Stress ohne Pause, und dauerhafter Präsenzunterricht auch dauerhaften Spitzenstress. Aus arbeitspsychologischer Sicht eine völlig inakzeptable Situation, der man die Lehrenden aussetzt - vom Infektionsrisiko gar nicht zu sprechen.

Gehirn im Notfallmodus und die Folgen

Bei einer kurz währenden Gefahr ist es eine normale und (über)lebenswichtige Reaktion unseres Körpers auf äußerliche Bedrohungen, dass Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin die Aufmerksamkeit, Seh- und Hörvermögen sowie die Durchblutung steigern. Hält dieser Zustand jedoch zu lange an, oder wiederholt er sich zu oft, gerät der Betroffene in einen unnatürlichen Dauer-Alarmzustand, der ihm zwar immer mehr zur trügerischen Routine wird. Der aber das psychische und physische System chronisch schädigen kann. Die Gefahr eines so genannten Burn Outs steigt, der keine medizinisch anerkannte Diagnose ist, aber eine Vielzahl von Diagnosen zu einem psychosozialen Schädigungsbild zusammenführt. Denn der Mensch ist psychisch und physiologisch nicht für den dauerhaften Alarmzustand geeignet.

Mit andauernden stressbedingten biochemischen Vorgängen in den Organen sind pathologische, also krankhafte, neurale Prozesse im Gehirn verknüpft, die chronifizieren, weil sie das biochemische Gleichgewicht der Transmitter im zentralen Nervensystem nachhaltig stören. Es entstehen neue neurale Muster - sozusagen neue Programme im Gehirn. Diese lösen die Probanden Stück für Stück aus der - für sie belastenden - Realität heraus und führen sie in einen krankhaften Zustand. Etwa können mittel- oder hochgradige Depressionen und/oder psychotische Zustände die Folgen sein. Zudem steigt die Gefahr von Substanzmissbrauch - etwa durch Alkohol, Medikamente und illegale Drogen. Psychische und emotionale Symptome wie hohe Gereiztheit, Empfindlichkeit, Erschöpfung und konfuse Gedankenstrukturen, wie z.B. übermäßiger Aktionismus oder tiefe Grübelei, sind sichere Anzeichen dafür, dass man bereits über die Belastungsgrenze hinausgegangen ist. Dann bleibt nur noch die Notbremse, was in der Praxis Dienstunfähigkeit bis hin zur Erwerbsminderung bedeutet. Eine lange Rehabilitation ist dann unverzichtbar.

Effzienzkiller beim Lernen - eine kleine Umfrage

Solchermaßen belastete Arbeitskräfte sind nicht in Topform, um einen gewohnt qualitativen Unterricht geben zu können. Das ist wiederum kein Gewinn für die Schülerinnen und Schüler. Ein effizienter Unterricht ist aber bei dem Infektionsrisiko, dass auch die Schülerschaft im Präsenzunterricht tragen muss, besonders wichtig. Denn wofür begibt man sich in diese riskante Situation, wenn nicht einmal das Lernen richtig klappen will? Eine für alle Beteiligten äußerst unbefriedigende Kalkulation, wenn sich zu dem sehr konkreten Gefühl der Angst um die Gesundheit auch noch fehlende Chancen auf Arbeits- und Lernerfolg gesellen. Ein unsoziales, unökonomisches und unethisches Ungleichgewicht zu Lasten Lehrender und Lernender ist entstanden.

Dass der Unterricht unter Corona-Bedingungen von Lehrerinnen und Lehrern verschiedener Schulformen quer durch die Republik als besonders ineffizient wahrgenommen wird, ist auch das Ergebnis meiner kleinen Umfrage. Sie ist unter streng wissenschaftlichen Kriterien nicht repräsentativ, da die Zahl der Beteiligten mit 63 Personen viel zu niedrig ist. Allerdings zeichnet sich eine klare Tendenz ab, die sich auch in den Gesprächen bestätigt, die ich mit Kolleginnen und Kollegen verschiedener Schulformen vertiefend geführt habe. Nicht einmal jeder Fünfte verneinte, dass der Präsenzunterricht unter Corona-Bedingungen weniger effizient abläuft. Die weit überwiegende Mehrheit hingegen ist der Meinung, dass er "auf jeden Fall" oder "eher weniger" effizient ist.

Zahnlose Lehrervertretungen

Dass die Berufsvertretungen der Lehrer artig und höflich Tadel an diesen verkorksten Arbeits- und Lernbedingungen üben, lenkt nicht von der Tatsache ab, dass sie keine Möglichkeit nutzen, wirksam etwas dagegen zu tun. Man hat offensichtlich den Ernst für die eigene Klientel nicht begriffen und ihre Interessen in den Stapel mit der Wiedervorlage sortiert. Offenbar in der Hoffnung, man könne es aussitzen. Die kleine zusätzliche Finanzspritze wirkt eher wie Hohn als echte Interessenvertretung. Es ist sicher nicht vorstellbar, dass Gewerkschaften von Arbeitnehmern in der Wirtschaft solche Bedingungen passiv hinnehmen würden. Da wäre längst ein Orkan des Widerspruchs losgebrochen, gegen den die Streiks für die 35-Stunden-Woche nur ein laues Lüftchen waren. Denn Arbeits- und Gesundheitsschutz sind die originären Aktionsfelder der Interessenvertretungen von abhängig Beschäftigten überhaupt.

So wird aus der Corona-Krise zunehmend eine Krise der psychischen und körperlichen Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern sowie eine Bildungskrise für die Schülerinnen und Schüler, besonders an staatlichen Schulen. Und die Verantwortlichen schauen überwiegend untätig zu ...